Liebe Kleine,
da bist du wieder, mit all deinen vielfältigen traurigen Gefühlen und der inneren Stille. Kein Laut, nur große Augen. Kein Wort, nur Verstummen. Keine Handlung, nur Verkriechen. Kein Selbstbewusstsein, nur unsichtbarmachen. Keine Wut, nur dulden.
Heute finde ich es schwer mit dir.
Ehrlich, ich wäre lieber wütend. Ich wäre lieber wütend auf die Schwester, wütend auf die Mutter, wütend auf den Vater. Ich habe aber dein Gefühl,das sich fremd und verletzlich-machend und bedürftig anfühlt, das ist sehr schwer, das möchte ich am liebsten abschütteln. Aber abschütteln soll ja nicht sein, sondern zusammenwachsen. Puh. wer sich das ausgedacht hat, der gehört durchgeschüttelt...
Es ist sehr schwer für mich, traurig zu sein. Das ist die Seite Gefühle, die mit Abhängigkeit verbunden ist und wenn ich was hasse und vernichte, dann Abhängigkeiten!!!! Da werde ich direkt wieder zornig.
Tief durchatmen. Ich möchte aber dennoch versuchen, deinen Gefühlen Raum zu geben... den Gefühlen meiner Schwester gegenüber Raum zu geben.
Liebe Schwester.
nachdem nun zwei Wochen seit unserem Telefonat vergangen sind, möchte ich dir schreiben. Oft denke ich an dich und unsere Beziehung zueinander und werde sehr traurig. Heute ist es besonders dolle. Ich fühle mich verloren, einsam, traurig, still. Das ist ein ganz kindliches Gefühl.
Es beschäftigt mich sehr, welche Konsequenzen unser letztes telefongespräch hat. Ich finde nicht so recht eine Position, mit der ich mich anfreunden kann. Deswegen schreibe ich den Brief an dich hier und nicht in echt, denn ich denke, da ist ein Haufen Zeugs dabei, das nicht ungefiltert an dich darf, denn ich muss schließlich auf mich aufpassen und darf mich in echt nicht zu verletzlich machen.
Wie traurig das ist. Das sind wir nämlich schon beim Punkt: ich muss dir gegenüber sehr gut aufpassen, denn du verletzt mich oft und du verletzt mich gerne und das auch schon lange.
Schon als wir Kinder waren, waren wir uns nicht nah oder vertraut, wir waren immer fremd und schon damals hast du mich von dir ferngehalten. Du warst schon damals wütend auf mich. Ich kann es sogar verstehen. Hast du schon mal darüber nachgedacht, welche Rollen wir in dieser Familie hatten?
Ich war das kleine niedliche Mädchen, das immer fröhlich war und habe auf alle Gesichter ein Lächeln gezaubert. Du warst die große und ruhige Schwester, die mit ihrem Verstand die anderen beeindruckte. Ich war Mamas kleines Mädchen, du warst Papas Tochter. Ich war diejenige, die eine gaaaanz enge besondere Beziehung zur Mutter hatte, du warst alleine und und musstest schon früh damit klarkommen, dass du nicht so wichtig bist.
Ich denke, dass du bis heute fühlst, oder glaubst, dass ich dir etwas weggenommen habe. Dass ich bevorzugt wurde. Dass ich es leichter hatte. Dafür hasst du mich. Ich wünsche mir aber so sehr, du könntest sehen, dass meine Rolle nicht die bessere war. Sie war nur anders. Ich war als Person für die Mutter überhaupt nicht existent, ich musste einfach nur sein, was sie wollte, und dafür sorgen, dass es ihr gut ging.
Deswegen kann ich das heute nicht mehr. Heute, wo sie alt wird und anfängt, ihre Kinder vielleicht mal wirklich zu brauchen, da kann und möchte ich nicht mehr die sein, die ihr zur verfügung steht. Deswegen rutschst du da jetzt rein. das macht dich noch wütender auf mich. Aber ich muss meine grenzen ziehen und du musst deine Grenzen ziehen.
Ich hab dich lieb.
deine Schwester Elefantenkind
Soviel für heute. Das ist anstrengend. Dahinter steckt die Sehnsucht, von ihr verstanden zu werden und mich mit ihr verbünden zu wollen. Die Sehnsucht, nicht mehr das einsame Kind sein zu müssen, sondern eine Schwester neben mir zu haben, mit der ich sprechen kann, mich austauschen kann, abgleichen kann. Die mich versteht, weil sie die Eltern kennt, die ich verstehe, weil ich dabei war. So eine große Sehnsucht. Ich weine.
Daneben steht die Vorsicht. Sie ist das nicht, die Schwester, sie ist gefährlich, denn sie kann so sehr verletzen, verurteilen, kränken, abwerten, hassen, unnachgiebig sein, unversöhnlich sein. Auch für sie bin ich das schwarze Schaf in der Familie.